Nicht essbare Wurstclipse und -hüllen zählen als Tara
Das Verwaltungsgericht Münster hat mit Urteil vom 28.03.2023 (Az. 9 K 2549/19) entschieden, dass nicht essbare Wurstclipse bzw. nicht essbare Wursthüllen zur Tara zählen und somit nicht dem Nettogewicht des Lebensmittels zuzurechnen sind.
Sachverhalt
Das klagende Unternehmen stellt Wurstwaren her, die mit zwei Wurstendenabbindern in Form von Wurstclipsen und einer Wursthülle versehen sind. Die Wursthülle sowie die Clips sind nicht essbar. Im Rahmen einer Kontrolle durch die zuständigen Eichbehörden beanstandete diese, dass die Wursthüllen und Wurstclipse, die nicht verzehrt werden, als Tara-Material zu berücksichtigen und nicht der Nettofüllmenge zuzurechnen seien.
In der Folge untersagten die Eichbehörden dem Unternehmen, Fertigpackungen mit Wurstwaren, bei denen die Wurstclipse und die Wursthüllen nicht austariert, sondern der Nettofüllmenge hinzugerechnet werden, in Verkehr zu bringen.
Hiergegen erhob das betroffene Unternehmen Klage vor dem Verwaltungsgericht Münster.
Rechtlicher Hintergrund
Gem. Art. 9 Abs. 1 Buchst. e) i. V. m. Art. 23 Abs. 1 und 3 i. V. m. Anhang IX LMIV ist bei vorverpackten Lebensmitteln die Nettofüllmenge des Lebensmittels anzugeben.
Gem. Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 sind „Lebensmittel“ alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden.
Wurstclipse und nicht essbare Wursthüllen werden jedoch nicht mitgegessen, mit der Folge, dass die Eichbehörden die Auffassung vertraten, dass diese nicht zur „Nettofüllmenge des Lebensmittels“ zählen.
Entscheidung:
Das Verwaltungsgericht entschied, dass es sich bei den nicht essbaren Wurstclipsen und -hüllen um Bestandteile handelt, die zur Tara und nicht zum Nettogewicht des Lebensmittels zählen.
Zur Begründung führte es aus, dass es sich bei dem Wechsel des Begriffs der „Nettofüllmenge“ aus der Etikettierungsrichtlinie hin zum Begriff der „Nettofüllmenge des Lebensmittels“ in der LMIV nicht nur um eine rein redaktionelle Klarstellung, sondern um eine inhaltliche Änderung mit dem Ziel einer Harmonisierung des Lebensmittelinformationsrechts handele. Selbst wenn daher aus den Regelungen der Etikettierungsrichtlinie der Schluss zu ziehen gewesen sei, dass nicht essbare Wurstclipse und nicht essbare Wursthüllen dem Lebensmittel zuzurechnen waren und dies bisher von den Mitgliedstaaten in der Verwaltungspraxis entsprechend berücksichtigt worden sei, sei eine derartige Auslegung aufgrund der aktuellen Begriffsbestimmung der LMIV nicht mehr möglich.
Dabei sei es auch unbeachtlich, dass die bisherige Verwaltungspraxis in Form der RFP und deren Anwendung durch die zuständigen Behörden auch ab dem Geltungsbeginn der LMIV fortgeführt worden und Wursthüllen und Wurstclipse dem Nettogewicht des Lebensmittels hinzugerechnet worden seien. Denn aus einer solchen, nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes, ggf. rechtswidrigen Verwaltungspraxis könne das Unternehmen keine entsprechenden Rechtsansprüche herleiten.
Den Verweis auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen (Urteil vom 6. September 2012, Az.: 8 K 1602/10), wonach bei einem Fleischspieß der Holzspieß zum Nettogewicht des Lebensmittels zähle und nicht auszutarieren sei, lehnte das Verwaltungsgericht mit dem Hinweis ab, dass die dem Urteil zugrunde liegende Rechtslage mit Inkrafttreten der LMIV überholt sei.
Im Übrigen sei es auch gerechtfertigt, zwischen künstlich hinzugefügten Bestandteilen einerseits und natürlich gewachsenen nicht essbaren Bestandteilen eines Lebensmittels andererseits zu differenzieren. Bei letzteren, beispielsweise Kirschkernen in Kirschen oder Knochen eines Koteletts, sei eine Austarierung der nicht essbaren Bestandteile von vorneherein nicht möglich, ohne das Produkt zu zerstören. Hingegen handele es sich bei nicht essbaren und nicht natürlichen Bestandteilen, die im Rahmen des Herstellungsprozesses eines Lebensmittels verwendet würden, um solche, die dem Produkt separat hinzugefügt würden und deren Tarierung somit ohne Weiteres möglich sei.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster ist noch nicht rechtskräftig.
Anmerkung:
Die Entscheidung steht im Gegensatz zu der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Sigmaringen, das wie erwähnt im Jahr 2012 anders geurteilt hat. Die Definition des Lebensmittels galt auch schon damals. Die LMIV war ebenfalls bereits verabschiedet, galt aber erst ab Dezember 2014. Dass mit deren Inkrafttreten eine Änderung der Rechtslage eingetreten sein soll, wie das Verwaltungsgericht Münster meint, ist zumindest fraglich.
Die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts bestätigt allerdings die seit einiger Zeit von einigen Mess- und Eichbehörden vertretene Rechtsauffassung, dass nicht natürliche und nicht essbare Bestandteile eines Lebensmittels, die diesem hinzugefügt werden, nicht zur Nettofüllmenge des Lebensmittels zählen. Mit Spannung bleibt abzuwarten, wie das Berufungsgericht in dieser Sache entscheiden wird.
Lebensmittelunternehmer, die zur Herstellung ihrer Produkte entsprechende Materialien, z. B. Spieße, Stiele, Spähne, Bänder, nicht essbare Hüllen etc. verwenden und diese Bestandteile derzeit der Nettofüllmenge zurechnen, sollten den Fortgang des Verfahrens beobachten. Sollte das Berufungsgericht die erstinstanzliche Entscheidung bestätigen, ist mit einer verstärkten Kontrolle entsprechender Produkte durch die Eichbehörden zu rechnen.
Über den weiteren Fortgang der Sache werden wir Sie hier informiert halten.
Redaktion: Prof. Dr. Clemens Comans